Zur Wirksamkeit des standardisierten Trainings „Mobilität 2020“ für Rollstuhlnutzende

Der Bedarf an Mobilitätstrainingskursen für Rollstuhlnutzerinnen und Rollstuhlnutzer in Deutschland ist groß. Flächendeckende Angebote fehlen weitestgehend. Die Erkenntnisse aus dem Projekt „Mobilität 2020“ sollen dazu beitragen, bundesweite Mobilitätsangebote für Rollstuhlnutzerinnen und Rollstuhlnutzer nach einem standardisierten Konzept zu schaffen.

Die eigene Mobilität nimmt eine zentrale Bedeutung hinsichtlich des Erhalts der subjektiven Lebensqualität und der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ein. Nur wer ausreichend mobil ist, kann in vollem Umfang am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, sei es im privaten oder öffentlichen Bereich, in der Arbeitswelt oder der Freizeit. Menschen mit Mobilitätseinschränkungen, die im Alltag aufgrund einer Erkrankung oder eines Unfalls auf einen Rollstuhl zur Fortbewegung angewiesen sind, sind jedoch oftmals nicht ausreichend dazu befähigt, die Herausforderungen und Hindernisse im Alltag zu bewältigen. Grund dafür sind zumeist Unsicherheiten oder fehlende Erfahrungen im Umgang mit dem Rollstuhl. Da die Fähigkeiten im Umgang mit dem Hilfsmittel darüber entscheiden, wie mobil eine Person ist, wurde in Artikel 20 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) festgeschrieben, dass wirksame Maßnahmen zu treffen sind, die die persönliche Mobilität mit „größtmöglicher Unabhängigkeit“ sicherstellen. Dabei wird hervorgehoben, dass neben der Versorgung mit passenden Hilfsmitteln auch festgeschriebene Trainings zur Erweiterung von Mobilitätskompetenzen für Menschen mit Beeinträchtigung zur Verfügung stehen sollen.[1] Derzeit liegen deutschlandweit zwar vereinzelte Angebote zur Mobilitätsförderung vor, flächendeckende Angebote fehlen jedoch weitestgehend.

An dieser Stelle setzte das Projekt „Mobilität 2020“[2] an. Es wurden erstmals Erkenntnisse zur Umsetzbarkeit und Wirksamkeit eines standardisierten Mobilitätstrainings auf die Mobilität von Rollstuhlnutzerinnen und Rollstuhlnutzern untersucht mit dem Ziel, den Betroffenen langfristig bundesweite Mobilitätstrainingsangebote nach einem überprüften Konzept zu ermöglichen. Dazu wurden standardisierte Mobilitätstrainingskurse durchgeführt und wissenschaftlich evaluiert. Geleitet wurde das Projekt vom Forschungsinstitut für Inklusion durch Bewegung und Sport (FIBS gGmbH) in Kooperation mit dem Deutschen Rollstuhl-Sportverband e. V. (DRS) unterstützt mit Mitteln der DGUV-Forschungsförderung.

Projektvorgehen

Während der Projektlaufzeit (Oktober 2016 bis März 2021) fanden bundesweit insgesamt 30 Mobilitätstrainingskurse an 20 verschiedenen Standorten statt. Dabei wurden an jedem Standort jeweils zwei Trainingstermine im Abstand von vier Wochen mit einer zwischenzeitlichen onlinegestützten Selbsttrainingsphase angeboten. Das Trainingskonzept wurde partizipativ mit erfahrenen Fachleuten sowie Rollstuhlnutzerinnen und Rollstuhlnutzern erarbeitet und führte verschiedene etablierte Rollstuhltrainingskonzepte zusammen.

Am Projekt nahmen 228 Personen teil, die teilweise oder vollständig auf die Nutzung eines Rollstuhls in ihrem Alltag angewiesen sind. Bei den meisten Teilnehmenden war die Rollstuhlnutzung bedingt durch eine Erkrankung an Multipler Sklerose oder durch eine erkrankungs- oder unfallbedingte Querschnittlähmung. Die Teilnehmenden der Studie wurden im Rahmen eines Kontrollgruppen-Warte-Designs in eine Interventionsgruppe (IG, n=193) und eine Kontrollgruppe (KG, n=35) eingeteilt. Die IG erhielt das Mobilitätstraining, während die KG zunächst kein Training absolvierte.[3]

Die anhand des standardisierten Rollstuhlmobilitätstests AMR® erhobenen Ergebnisse zeigen die positive Wirkung der Mobilitätstrainingskurse auf die Rollstuhlmobilität der Teilnehmenden.

Wirksamkeit des Trainings nachgewiesen

Die anhand des standardisierten Rollstuhlmobilitätstests AMR® (Aktivitätstest zur Mobilität im Rollstuhl) erhobenen Ergebnisse belegen die positive Wirkung der Mobilitätstrainingskurse auf die Rollstuhlmobilität der Teilnehmenden. In der Interventionsgruppe zeigte sich nach Absolvieren des Trainings eine starke Verbesserung der Rollstuhlmobilität. Im Gegensatz zur Interventionsgruppe konnte sich die Kontrollgruppe im gleichen Zeitraum nicht nennenswert steigern (siehe Abbildung 1). 

Abbildung 1: Messergebnisse der Rollstuhlmobilität zum ersten und zweiten Messzeitpunkt, aufgeteilt nach Interventionsgruppe (134 Teilnehmende) und Kontrollgruppe (26 Teilnehmende) | © Bungter, Mockenhaupt, Tillmann & Anneken (2021): "Mobilität 2020"
Abbildung 1: Messergebnisse der Rollstuhlmobilität zum ersten und zweiten Messzeitpunkt, aufgeteilt nach Interventionsgruppe (134 Teilnehmende) und Kontrollgruppe (26 Teilnehmende) ©Bungter, Mockenhaupt, Tillmann & Anneken (2021): "Mobilität 2020"

Dieser signifikante Unterschied bestätigt sich auch im Hinblick auf die subjektive Einschätzung der eigenen Rollstuhlmobilität. Es zeigte sich, dass die Teilnehmenden der Interventionsgruppe im Gegensatz zur Kontrollgruppe ihre Mobilität im Umgang mit dem Rollstuhl nach den beiden Mobilitätstrainings tendenziell besser einschätzten als vor der Intervention. Die Erhebungen im Sinne der Nachhaltigkeit der Intervention nach drei und zwölf Monaten (MZP 3 und 4) ergaben zudem, dass die Teilnehmenden ihre Rollstuhlmobilität zum vierten Messzeitpunkt tendenziell am höchsten einschätzten. Die durch das Training erzielte Mobilitätsverbesserung scheint demnach eine nachhaltige Wirkung zu haben.

Bemerkenswert ist im Bereich der beruflichen Teilhabe, dass berufstätige Teilnehmende der Interventionsgruppe ihre Mobilität auf dem Weg zur Arbeit signifikant steigern konnten.

Personen mit progredienten Erkrankungen profitieren

Die Auswertungen zeigen, dass Teilnehmerinnen insgesamt niedrigere Mobilitätswerte aufwiesen als Teilnehmer, die Verbesserung ihrer Mobilität vom ersten zum zweiten Messzeitpunkt jedoch stärker ausfiel als bei Rollstuhlnutzern. Dieses Ergebnis spiegelt die Bedeutung des Mobilitätstrainings für Frauen wider, die oftmals eine geringere Körperkraft als Männer aufweisen[4] und durch die Vermittlung von adäquaten Techniken im Umgang mit dem Rollstuhl besser befähigt werden, auch kraftintensivere Hindernisse zu bewältigen.

Personen, die aufgrund einer progredienten Erkrankung (hier: Multiple Sklerose) auf einen Rollstuhl angewiesen sind, weisen insgesamt niedrigere Mobilitätswerte auf als Teilnehmende, die zum Beispiel aufgrund einer erworbenen oder angeborenen Querschnittlähmung im Alltag einen Rollstuhl nutzen. Die erzielte Mobilitätsverbesserung durch das Training fiel konsequenterweise bei diesem Personenkreis höher aus als bei den Personen mit einer Rückenmarksverletzung. Erklärbar wird dies auch dadurch, dass zum Beispiel Personen mit erworbener Querschnittlähmung in der Regel eine (Erst-)Rehabilitation mit Hilfsmittelversorgung und Rollstuhlmobilitätstraining erhalten.[5] Die Schwerpunkte einer Rehabilitation bei progredienten Erkrankungen wie Multipler Sklerose liegen zunächst auf Maßnahmen wie Gang- und Ergometertraining.[6] Auch erhalten die Betroffenen nur eine Einweisung in die allgemeine Funktionsweise des Rollstuhls und keine Kompetenzschulung im Umgang mit Hilfsmitteln. Vor diesem Hintergrund bekräftigen die Ergebnisse die Notwendigkeit von Rollstuhlmobilitätstrainings insbesondere für Personen, die aufgrund einer progredienten Erkrankung auf die Nutzung eines Rollstuhls im Alltag angewiesen sind.

Training steigert körperliche Aktivität

Die Betrachtung der Aspekte körperliche Aktivität und gesundheitsbezogene Lebensqualität sowie subjektive und berufliche Teilhabe brachten unterschiedliche Ergebnisse hervor. So wies die erfasste Mobilitätsverbesserung nach den beiden Trainingseinheiten keine größeren Veränderungen im Hinblick auf die körperliche Aktivität der Teilnehmenden zu den ersten beiden Messzeitpunkten auf. Bei Betrachtung der Erhebungszeitpunkte nach drei und zwölf Monaten (MZP 3 und 4) zeigte sich jedoch eine Steigerung der körperlichen Aktivität, wodurch sich hier ein langfristiger Effekt vermuten lässt. Hinsichtlich der subjektiven gesundheitsbezogenen Lebensqualität konnte festgestellt werden, dass sich die Interventionsgruppe bezogen auf körperliche Aspekte ihrer Lebensqualität (unter anderem Beweglichkeit, Belastbarkeit, Schmerzen) signifikant besser einschätzten als vor dem Mobilitätstraining. Bemerkenswert ist im Bereich der beruflichen Teilhabe, dass berufstätige Teilnehmende der Interventionsgruppe (n=29) ihre Mobilität auf dem Weg zur Arbeit signifikant steigern konnten.

Das gemischte Konzept aus Training mit Trainerin oder Trainer sowie Selbsttraining beurteilten circa 95 Prozent der Teilnehmenden als sinnvoll.

Akzeptanz des Trainingskonzepts

Wesentlicher Erfolgsfaktor für eine nachhaltige Implementierung standardisierter Trainingskonzepte ist die Akzeptanz in der relevanten Zielgruppe. Hierzu lieferte das Feedback der Teilnehmenden erfreuliche Erkenntnisse. Nahezu alle Teilnehmenden (mehr als 95 Prozent) gaben an, dass sie ihre Fähigkeiten durch die Trainingsteilnahme verbessern konnten und im Umgang mit dem Rollstuhl sicherer geworden sind. Beispielhaft dazu ein Zitat einer Teilnehmerin: „Das war immer so ein Problem im Kopf, wie komme ich da hoch, bleibe ich da vorher stoppen oder wie auch immer. Jetzt gerade heute war dann tatsächlich so das Aha-Erlebnis: Hey das geht ja alles, es funktioniert!“ Das gemischte Konzept aus Training mit Trainerin oder Trainer sowie Selbsttraining beurteilten circa 95 Prozent der Teilnehmenden als sinnvoll. Jedoch berichteten 85 Prozent  der Teilnehmenden, dass in ihrem lokalen oder regionalen Umfeld keine Trainingsangebote zur Schulung der Rollstuhlmobilität vorlägen.

Bundesweite Etablierung ist erstrebenswert

Das Projekt „Mobilität 2020“ zeigte in einer eindrucksvollen Weise die Effektivität eines standardisierten Mobilitätstrainings für Rollstuhlnutzerinnen und Rohlstuhlnutzer auf. Durch die beiden Mobilitätstrainingskurse im Zusammenspiel mit der onlinegestützten Selbstlernphase konnten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre Rollstuhlmobilität nachweislich steigern.

Das Trainingskonzept fand großen Zuspruch, dies wurde in Gesprächen und Interviews mit den Teilnehmenden sowie den Trainerinnen und Trainern deutlich. Alle berichteten gleichermaßen von Fortschritten, die durch die Teilnahme am Mobilitätstraining erreicht werden konnten. Da das modular aufgebaute Trainingskonzept die Möglichkeit bietet, auf unterschiedliche Fähigkeits- und Fertigkeitslevel der Teilnehmenden gezielt einzugehen und die Trainingsinhalte personenzentriert anzupassen, kann dieses auch bei stark heterogenen Gruppen angewendet werden.

Für den Transfer der Erkenntnisse über die Projektlaufzeit hinaus erstellte das Projektteam „Fortbildungsmaterial zur Rollstuhlmobilität im Alltag“ und eine Handlungsempfehlung zu den Rahmenbedingungen des verwendeten Trainingskonzeptes. Diese konkreten Empfehlungen zeigen einen Weg auf, wie eine bundesweite Etablierung von standardisierten Rollstuhlmobilitätskursen möglich wäre, um den Präventions-, Rehabilitations- und Eingliederungsprozess für Rollstuhlnutzerinnen und Rollstuhlnutzer hin zu mehr Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu unterstützen.

Der QR-Code führt zum Abschlussvideo des Projekts auf der Webseite des Forschungsinstituts für Inklusion durch Bewegung und Sport.
Der QR-Code führt zum Abschlussvideo des Projekts auf der Webseite des Forschungsinstituts für Inklusion durch Bewegung und Sport.

Weitere Informationen

Das Forschungsinstitut für Inklusion durch Bewegung und Sport gGmbH ist ein An-Institut der Deutschen Sporthochschule Köln in Trägerschaft der Gold-Kraemer-Stiftung, der Lebenshilfe Nordrhein-Westfalen e. V. und der Deutschen Sporthochschule Köln. www.fi-bs.de