Beitragsforderungen können bei insolventen Betrieben zu den Massenverbindlichkeiten zählen

Eine analoge Anwendung des § 55 Abs. 3 InsO, wonach der Gesamtsozialversicherungsbeitrag bei Leistung von Insolvenzgeld zu einfachen Insolvenzforderungen zurückgestuft wird, auf den Beitrag zur gesetzlichen Unfallversicherung scheidet mangels planwidriger Gesetzeslücke aus.

Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 15.12.2020, B 2 U 14/19 R

Kläger in dem Verfahren, das am 1. April 2015 eröffnet worden war, war der Insolvenzverwalter über das Vermögen einer Kapitalgesellschaft (KG). Vor Eröffnung war er zunächst für einen Zeitraum von rund sechs Wochen als sogenannter schwacher vorläufiger Insolvenzverwalter und für die letzten drei Wochen vor der Eröffnung als sogenannter starker vorläufiger Verwalter eingesetzt, auf den die Verfügungsbefugnis über das Vermögen nach § 22 Abs. 1 Satz 1 Insolvenzordnung (InsO) übergegangen war. Der beklagte Unfallversicherungsträger hatte dem Kläger mitgeteilt, dass seine Zuständigkeit mit Ablauf des 31. März 2015 ende, und eine Beitragsabfindung berechnet. Den anteilig auf die Zeit der starken vorläufigen Verwaltung entfallenden Anteil machte der Unfallversicherungsträger durch einen Beitragsbescheid geltend.

Während der klagende Insolvenzverwalter die Auffassung vertrat, dass es sich bei den Beitragsforderungen aus der Zeit vor der Eröffnung des Verfahrens um einfache Insolvenzforderungen gemäß § 38 InsO handele, die zur Insolvenztabelle anzumelden seien, verwies der Unfallversicherungsträger auf § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO, wonach Forderungen aus Dauerschuldverhältnissen, für die der starke vorläufige Insolvenzverwalter die Gegenleistung in Anspruch genommen habe, als Masseverbindlichkeiten gelten.

Der Zweite Senat des BSG gab dem im Verfahren bereits in erster und zweiter Instanz obsiegenden Unfallversicherungsträger recht. Die Beiträge zur Unfallversicherung seien nach § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO als Forderungen aus Dauerschuldverhältnissen, für die der vorläufige starke Verwalter die Gegenleistung in Anspruch genommen hat, als Masseverbindlichkeiten einzustufen. In diesem Fall seien die Beitragsforderungen für die Zeit vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens aus dem Mitgliedschaftsverhältnis zwischen der KG und der Beklagten im Rahmen eines Dauerschuldverhältnisses entstanden. Der Kläger habe als starker vorläufiger Insolvenzverwalter die Haftungsfreistellung als Gegenleistung für das von ihm verwaltete Vermögen der KG in Anspruch genommen. Das BSG musste eine solche Konstruktion wählen, da die Beitragsforderung anders als der Gesamtsozialversicherungsbeitrag nicht als „Annex“ der Arbeitsentgeltforderungen der Beschäftigten aus der Zeit vor Verfahrensöffnung betrachtet werden können, die vom starken vorläufigen Verwalter noch beschäftigt worden sind und damit als Forderungen für die Inanspruchnahme der Arbeitsleistung durch den vorläufigen Verwalter gelten (vgl. BGH vom 16.06.2016, IX ZR 114/15, allerdings zum insoweit der vorläufigen Insolvenzverwaltung gleichgestellten Schutzschirmverfahren). Das BSG sieht hier also nicht die Arbeitsverhältnisse als zugrunde liegende Dauerschuldverhältnisse, aus denen die als Masseverbindlichkeit entstehende Forderung auch auf die Sozialversicherungsbeiträge aus der Inanspruchnahme der Gegenleistung resultiert. Vielmehr ist es die vom Unfallversicherungsträger erbrachte „[…] Dauerleistung, indem sie die KG von der zivilrechtlichen Haftung für Personenschäden – durch die Gewährung von Versicherungsschutz – gegenüber Versicherten, ihren Angehörigen und Hinterbliebenen partiell freistellte (§§ 104 ff. SGB VII) […]“, während die KG „[…] der Beklagten zu jährlich wiederkehrenden Beitragsleistungen im Wege der Umlage verpflichtet […]“ gewesen sei. Auch § 55 Abs. 3 InsO, wonach die Forderungen bei Leistung von Insolvenzgeld durch die Bundesagentur für Arbeit zu einfachen Insolvenzforderungen herabgestuft werden, steht der Qualifizierung zu Masseverbindlichkeit im Falle der Beiträge zur Unfallversicherung nicht entgegen, da sie schon vom Wortlaut nicht umfasst sind und eine planwidrige Regelungslücke nicht erkennbar sei.

Die Entscheidung ist als lange ausstehende Klarstellung zu begrüßen, nachdem das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz (Urteil vom 22.04.2013, L 9 U 174/09) sich für eine insolvenzrechtliche Gleichstellung in der Frage der Rangrückstufung mit dem Gesamtsozialversicherungsbeitrag ausgesprochen hatte. Außerdem vermeidet die Einordnung als Masseverbindlichkeiten eine Anfechtung der Zahlung durch den nachfolgenden Insolvenzverwalter, da Masseverbindlichkeiten der Insolvenzanfechtung allgemein entzogen sind (vgl. dazu auch BGH a.a.O.). Sie gilt auch für das nunmehr in § 270d InsO geregelte Schutzschirmverfahren und seit 1. Januar 2021 allgemein für in der vorläufigen Eigenverwaltung begründete Masseverbindlichkeiten nach § 270c Abs. 4 InsO.